Mehr als 150.000 Gespräche in zehn Jahren – oder umgerechnet rund 730 Tage Nonstop-Beratung: Am 1. August 2009 nahm das Opfer-Telefon des WEISSEN RINGS seinen Dienst auf. Es war europaweit die erste Einrichtung ihrer Art, bei der ausschließlich ehrenamtliche Mitarbeiter tätig waren. Jetzt feiert das niederschwellige Beratungsangebot sein zehnjähriges Bestehen.
Wer die 116 006 wählt, braucht Hilfe - und einen verständnisvollen, kompetenten Zuhörer. Seit exakt einem Jahrzehnt können sich Menschen in Not täglich zwischen 7 und 22 Uhr diese Hilfe bei einem der insgesamt mehr als 70 Telefonberater des WEISSEN RINGS holen. Bundesweit. Kostenfrei. Auf Wunsch anonym. Körperverletzung und häusliche Gewalt sind die Delikte, wegen denen sich die meisten Menschen hilfesuchend an das Opfer-Telefon wenden, gefolgt von Stalking und Sexualdelikten. Im Bereich Körperverletzung und häusliche Gewalt registrierten die Mitarbeiter des Opfer-Telefons allein im vergangenen Jahr mehr als 2300 Anrufe. 2017 waren es noch fast 1700 solche Telefonate – das bedeutet ein Plus von etwa 40 Prozent. Insgesamt steigerte sich das Gesprächsaufkommen beim Opfer-Telefon 2018 um 13 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Gut zwei Drittel der Anrufer sind Frauen. Auch bei den Beratern sind Frauen mit einem Anteil von knapp zwei Dritteln in der Mehrzahl.
Nicht selten sind die ehrenamtlichen Mitarbeiter die ersten Menschen, mit denen sich Opfer einer Straftat unmittelbar danach über ihre Erlebnisse austauschen können - während sich in diesem frühen Stadium die Polizei um die Täter kümmert, kümmern sich die Berater des WEISSEN RINGS um die Opfer. „Nicht jeder kann oder will nach einer durchlebten Straftat sofort offen und persönlich mit anderen Menschen sprechen“, sagt Bianca Biwer, Bundegeschäftsführerin von Deutschlands größter Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität. Für manche sei es einfacher, erst einmal anonym am Telefon über das Erlebte zu reden. Oft würde der telefonische Zugangsweg als unverbindlicher und niedrigschwelliger angesehen. „Und so erreichen wir Menschen in Not, die sich sonst nie bei uns gemeldet hätten“, sagt Biwer.
Was Betroffene beim Opfer-Telefon bekommen, ist Unterstützung, Zuspruch, ein offenes Ohr, einen ihnen zugewandten Menschen am anderen Ende der Leitung. Die Mitarbeiter, die vor Aufnahme ihrer Beratungstätigkeit gezielt auf die Bedürfnisse der Hilfesuchenden geschult worden sind, geben Opfern nicht nur erste Stabilität, sondern helfen ihnen dabei, ihre Orientierung wiederzufinden, eine größere Klarheit über die eigene Situation zu gewinnen. Die Erstberatung via Opfer-Telefon ist zudem darauf ausgelegt, Betroffenen Möglichkeiten für eine persönliche Beratung im direkten Gespräch aufzuzeigen - entweder in einer der 400 Außenstellen des WEISSEN RINGS, oder bei einem der Netzwerkpartner der Opferhilfeorganisation. Die durchschnittliche Gesprächsdauer beträgt knapp acht Minuten.
Karl-Günther Theobald, Psychologe in der Bundesgeschäftsstelle des WEISSEN RINGS in Mainz, gehört zu den Begründern des Opfer-Telefons. „Bei Konzipierung und Initialisierung dieses Beratungsangebots 2009 haben wir einen Schwerpunkt auf die Auswahl und die Ausbildung der Mitarbeiter gelegt“, sagt Theobald. Auch heute noch müssen angehende Telefonberater eine zweigliedrige Ausbildung absolvieren. In einem ersten Seminar werden Kenntnisse zu Themen wie Stalking oder häuslicher Gewalt sowie rechtlichen Grundlagen vermittelt. Ein zweites, ebenfalls verpflichtendes Seminar widmet sich der Praxis – unter anderem auch mit Simulationen. Dabei schlüpfen Schauspieler in die Rolle von Opfern und spielen mit den künftigen Mitarbeitern am Telefon Szenarien durch, die sie auf ihren Beratungsalltag vorbereiten sollen. „Anscheinend haben wir diesen Teil der Ausbildung besonders realitätsnah gestaltet. Denn zwei Wochen nachdem wir im August 2009 mit 23 Beratern unseren Schichtdienst begonnen hatten, rief mich eine unserer damaligen Mitarbeiterinnen an. Sie wollte wissen, wann denn endlich die Testanrufe durch die Schauspieler aufhören würden. Dabei telefonierte sie zu diesem Zeitpunkt bereits längst mit tatsächlichen Opfern“, erinnert sich der Psychologe.
Aktuell ist der WEISSE RING wieder auf der Suche nach Menschen, die Dienst beim Opfer-Telefon leisten wollen. Dabei sucht der Verein in einem Umkreis von 50 Kilometern rund um Essen nach ehrenamtlichen Mitarbeitern. Denn im monatlichen Wechsel erfahren die Berater entweder Supervision oder nehmen an den Teamtreffen teil, um sich untereinander und mit dem hauptamtlichen Koordinationsteam für das Hilfsangebot auszutauschen. Mittlerweile gibt es in elf europäischen Ländern ein Opfer-Telefon. All diese Angebote sind im jeweiligen Telefonnetz unter 116 006 zu erreichen.